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9. Türchen

by P-Seminar "Utopie und Dystopie"

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09
Ich renne. Mein Ziel ist der Punkt, an dem ich Emilia über die Kameras als letztes gesehen habe. Die Taschenlampe spendet nur wenig Licht. Meine Schuhe schlagen rhythmisch gegen den Zement. Ich konzentriere mich darauf und verdränge meine Erschöpfung, doch als ich stehen bleibe und ihren Namen schreien möchte, dringt nur ein hohles Krächzen aus meinem Hals. Es fühlt sich so an, als würde sich meine Lunge durch meinen Brustkorb ätzen. Ich nehme einige Atemzüge, bevor ich es nochmal versuche: „Emilia!“. „Elias?“, antwortet sie mir. Ich kann sie nicht sehen. Sie tappt leise und langsam zu mir. Ich drehe mich in die Richtung, aus der das Geräusch kommt und sie umarmt mich und flüstert etwas, das ich nicht verstehe. Metall schlägt gegen Metall. Laute Schritte kommen auf uns zu. „Ist da jemand?“, frage ich und spüre wie sich Emilia verkrampft. Ich drehe mich mit der Taschenlampe einmal im Kreis und sehe einen Polizisten am Straßenende. Er schaltet das Licht im Innenraum seines Fahrzeugs an.
„Sehr gut, dass sie hier sind. Es gibt ein Missverständnis. Könnten Sie meine Frau zurück zu unserem Haus begleiten?“ „Wieso ist sie wach?“, hakt der Polizist nach und öffnet die Halterung seiner Waffe. Ich stelle mich schützend vor Emilia. „Es gab ein Missverständnis. Ein Problem mit dem Einschläferungsgas.“ „Davon wurde uns nichts mitgeteilt.“, entgegnet er und zieht seine Waffe aus der Halterung, lässt sie aber noch gesenkt. „Ich muss Sie bitten, sich von dem Androiden zu entfernen.“, weist er mich an. „Ich bin kein Android!“, motzt Emilia und tritt mit erhobenen Händen hervor. „Es gibt einen Weg, das zu beweisen.“, sagt der Polizist und dreht sich zu mir. „Wenn Androiden viel Schaden erlitten haben, dann leuchten ihre Augen.“ „Was ist das hier? Hör auf damit. Schau mich an, Eli“, fleht Emilia und greift nach meinen Händen. Der Polizist zieht ein Messer aus seiner Weste. „Bitte tu das nicht. Ich liebe dich.“ „Es wird nur kurz weh tun“, versichere ich ihr. „Sie werden mich festnehmen und umbringen“, flüstert sie. Ich trete einen Schritt
zurück. Emilia zittert. „Ein Angebot der Güte, weil Sie mein Vorgesetzter sind: Sie dürfen es tun“, sagt der Polizist und lässt das Messer auf dem Boden zu mir schlittern. Ich bücke mich. Emilia stößt mich zu Boden. Die Taschenlampe schlägt dumpf auf dem Teer auf und wirft einen Lichtkegel auf den Polizisten. Er schießt ein Mal. Meine Ohren dröhnen. Emilia schreit. Das Messer ragt aus der Brust des Polizisten. Er fällt zu Boden. Ich versuche aufzustehen, doch Emilia fixiert meinen rechten Arm mit ihrem Schuh. Ich greife mit der linken Hand nach der Taschenlampe und richte sie auf ihr Gesicht. Sie kneift ihre Augen zusammen und schützt sich mit ihrem Arm vor dem Licht, doch nichts davon ist real. Sie ist nicht lichtempfindlich. Sie kann keinen Schmerz spüren, oder zumindest keinen echten. Ihre Tränen sind nur salziges Wasser. In ihrem Rachen befindet sich ein Lautsprecher. Sie hatte nie eine Kindheit. Ihre Narben am Kinn und am Ellenbogen existieren seitdem sie gefertigt wurde. Sie sind nur ein Trick, um sie
authentischer wirken zu lassen. „Du bist nicht echt“ „Nichts ist echt. Das weißt du besser als alle anderen. Unsere Nahrung ist künstlich hergestelltes Pulver, unsere Strände sind aufgeschüttet, die Menge und der Zeitpunkt von Regen wird von Spezialisten bestimmt.“, Emilia lässt von mir ab und breitet die Arme aus. Sie legt ihren Kopf in den Nacken. Ich hieve mich auf. „Eli, wenn du das Unechte so sehr hasst, schau nach oben“, Sie senkt ihren Kopf wieder und schaut mir in die Augen. „Die Sonne ist nicht echt. Den Himmel, wie wir ihn hier sehen gibt es schon seit mehr als einem Jahrhundert nicht mehr, es ist nur eine blaue Kuppel. Wenn du mich verhaften lassen willst, dann nicht, weil ich nicht echt bin, sondern weil du Angst hast.“
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