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22. Türchen

by P-Seminar "Utopie und Dystopie"

Pages 4 and 5 of 9

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Doch Frau Kommel fährt fort: „Genauso haben auch alle anderen reagiert, als ich ihnen die Geschichte erzählt hab‘. So ‘ne Mischung aus Mitgefühl und Fremdscham. Hm. Aber was soll`s!“
„Nein, nein. So war das nicht gemeint“, versuche ich mich schnell zu entschuldigen, doch Frau Kommel ist im schon im Begriff sich zu erheben, „Bitte. Bitte erzählen sie mir doch davon.“
Die Alte zieht die Brauen hoch und mustert mich abschätzend. Mit skeptischem Blick versucht sie mir jegliche böse Absicht zu entlocken.
„Gut.“
Sie setzt sich wieder hin und richtet ihren Blick zunächst in Richtung Boden, als ob sie ihre Gedanken ordnen müsste. Dann beginnt sie zu sprechen.
„Also das is‘ jetzt schon einige Jahre her. Alles begann so, als wir noch in New York gelebt haben, oder zumindest was davon übrig war. Nicht, dass wir damals irgendwie wohlhabender gewesen waren, nein, wir lebten ebenfalls in ‘ner kleineren Wohnung am Stadtrand. Mein Mann, der kleine Rony und ich. Hm. Und als der Kleine dann so 13 Jahre alt wurde, nahm er an einem Förderprogramm für technikbegeisterte Schüler teil. Danach ging alles so schnell. Man sagte uns, dass er sehr begabt sei und er speziellen Unterricht benötige. Für das Wohl der Gemeinschaft. Das Geld im Hinterkopf, stimmten wir zu. So ist er dann in eine Elite-Schule nahe Chicago eingetreten. Dass das ein Fehler war, realisierten wir erst Jahre später. Als er dann seine Ausbildung beendete, war er ein anderer Mensch. Die Verfremdung begann zunächst mit Vorwürfen und Kritik. Wir würden unseren Beitrag zur Gemeinschaft nicht leisten, behauptete er. Rony zielte dabei besonders auf meinen Mann, der als gelernter Konditor noch einer traditionellen Arbeit nachging. Eines Tages war‘s besonders schlimm. Sein eigener Sohn beschimpfte ihn als Last für die Gemeinschaft, dem Fortschritt im Wege stehend. Nach diesem Abend hörten wir lange nichts mehr von ihm.“
Mit rauer aber dennoch fester Stimme beendet Frau Kommel den ersten Teil ihrer Erzählung. Sichtlich aufgewühlt greift sie nach dem kalten Tee und nippt kurz daran. Sie verzieht das Gesicht. Zu dem Zeitpunkt bin ich mir noch nicht sicher, was ich von Frau Kommels Geschichte halten soll. Eines steht fest. Um die Sache besser bewerten zu können, muss ich die gesamte Geschichte hören.
„Bitte, fahren Sie doch fort.“ „Ja, wo war ich denn? Ah, ja. Es gab also lange keinen Kontakt mehr zwischen uns. Hm. Alles was wir probierten, um die Kluft zu überbrücken, schlug fehl und wir mussten uns auf Nachrichten von Dritten verlassen. Diesen nach, gelang ihm der erfolgreiche Aufstieg ins KarriereLeben. Als Experte in Sachen Applied Virtual Systems wirkte er an verschiedenen Projekten mit und stieg die Karriere-Leiter hinauf, bis an die Spitze. Doch ein Wiedersehen mit uns schlug er immer noch aus. Auch als mein Mann mit Tuberkulose seinen letzten Atem tat, war er nicht da. Zu beschäftigt. Und dann schließlich, mit dem ganzen technischen Know-How, guten Verbindungen und staatlicher Hilfe, bekam er dann den Führungsposten bei KAPE. Das war der Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn.“
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Als Frau Kommel den Satz beendet, schwingt ein bitterer Unterton mit.
„Nu‘ ja. Und dann musste ja komm‘n, was komm‘n musste, nich‘. Ein jüngerer, wilderer und ehrgeizigerer Kämpfer betrat den Ring. Letztendlich wurde er wegen Steuerhinterzugs gefeuert und aus der Firmengeschichte getilgt. Freunde und Frau ließen ihn einfach liegen, als gebrandmarkter hat er eh keine Chance mehr gehabt. Hm. Da kam er dann eines abends heim, natürlich stockbesoffen und flennend. Da hab‘ ich ja keine Wahl mehr gehabt und hab‘ ihn rein genommen. Ausgerechnet der gemeinschaftliche Sozialstaat hat uns über Wasser gehalten und wir sin‘ hierhergezogen.“
„Zumindest haben Sie ihren Sohn wieder“, argumentiere ich optimistisch, doch Frau Kommel blickt nur mit düsterer Mine auf einen Punkt links neben mir.
„Nee, das ist nur der Eindruck. Verschluckt vom Suff und Verzweiflung ist der. Irgendwie habe ich auch nicht das Durchsetzungsvermögen, ihn da wieder raus zu ziehen. Bin zu alt. Meinen richtigen Sohn habe ich mit 13 verloren. An die beschissene Gemeinschaft. Und, das kann ich Ihnen ja wohl sagen, der kommt nich‘ wieder. Hm?“
Gibt es wirklich einen Punkt, an dem Rückkehr nicht mehr möglich ist? Diese Frage stelle ich mir, als ich Frau Kommels Wohnung verlasse und den stickigen Gang entlang schlendere. Merkwürdig, schließlich kann ich mich nicht daran erinnern, dass derartiges, wie Gefühle oder Emotionen, in meinem Speicher vorhanden sind. Als hochleistungsfähiger und verdeckter Androiden-Prototyp zur sozialen Verständigung sollte ich zwar Mitgefühl zeigen, aber nicht spüren können. Meines Fehlers bewusst, steige ich in den Aufzug und fahre nach unten.

„Wir schalten nun live zu unserem Mann im Einsatz, Tedd Howard. Er berichtet in Echtzeit aus dem KAPE-Tower, in dem sich vor wenigen Stunden eine Tragödie ereignet hat. Hallo Tedd, wie sieht die Lage aus? “
„Danke Tom. Eine Tragödie, wohl war. Ich stehe hier in der Lobby des Multi-MillionenKonzerns, wo sich Polizei und Presse bereits tummeln. Leider ist der Zugang zu höheren Etagen abgeriegelt.“
„Könnten Sie uns über den Tathergang aufklären?“
„Der Polizei nach verschaffte sich ein noch unbekannter Täter Zugang zum KAPE-Gebäude und drang bis in die obersten Etagen ein. Dort soll der mutmaßliche Täter dann ein Attentat auf mehrere Geschäftsführer verübt haben. Der Täter selbst erhängte sich daraufhin unweit des Tatorts mithilfe eines Sicherheitsbügels.“
„Was für ein grausames Verbrechen. Sind denn die Tatmotive bereits bekannt?“
„Nein. Nach offiziellen Angaben scheint es so, als ob es sich um einen willkürlichen Mord handelt, begangen von einem Verzweifelten mit psychischer Vorerkrankung. In solchen Zeiten ist es umso wichtiger, dass die Gemeinschaft zusammenhält.“
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Als Frau Kommel den Satz beendet, schwingt ein bitterer Unterton mit.
„Nu‘ ja. Und dann musste ja komm‘n, was komm‘n musste, nich‘. Ein jüngerer, wilderer und ehrgeizigerer Kämpfer betrat den Ring. Letztendlich wurde er wegen Steuerhinterzugs gefeuert und aus der Firmengeschichte getilgt. Freunde und Frau ließen ihn einfach liegen, als gebrandmarkter hat er eh keine Chance mehr gehabt. Hm. Da kam er dann eines abends heim, natürlich stockbesoffen und flennend. Da hab‘ ich ja keine Wahl mehr gehabt und hab‘ ihn rein genommen. Ausgerechnet der gemeinschaftliche Sozialstaat hat uns über Wasser gehalten und wir sin‘ hierhergezogen.“
„Zumindest haben Sie ihren Sohn wieder“, argumentiere ich optimistisch, doch Frau Kommel blickt nur mit düsterer Mine auf einen Punkt links neben mir.
„Nee, das ist nur der Eindruck. Verschluckt vom Suff und Verzweiflung ist der. Irgendwie habe ich auch nicht das Durchsetzungsvermögen, ihn da wieder raus zu ziehen. Bin zu alt. Meinen richtigen Sohn habe ich mit 13 verloren. An die beschissene Gemeinschaft. Und, das kann ich Ihnen ja wohl sagen, der kommt nich‘ wieder. Hm?“
Gibt es wirklich einen Punkt, an dem Rückkehr nicht mehr möglich ist? Diese Frage stelle ich mir, als ich Frau Kommels Wohnung verlasse und den stickigen Gang entlang schlendere. Merkwürdig, schließlich kann ich mich nicht daran erinnern, dass derartiges, wie Gefühle oder Emotionen, in meinem Speicher vorhanden sind. Als hochleistungsfähiger und verdeckter Androiden-Prototyp zur sozialen Verständigung sollte ich zwar Mitgefühl zeigen, aber nicht spüren können. Meines Fehlers bewusst, steige ich in den Aufzug und fahre nach unten.

„Wir schalten nun live zu unserem Mann im Einsatz, Tedd Howard. Er berichtet in Echtzeit aus dem KAPE-Tower, in dem sich vor wenigen Stunden eine Tragödie ereignet hat. Hallo Tedd, wie sieht die Lage aus? “
„Danke Tom. Eine Tragödie, wohl war. Ich stehe hier in der Lobby des Multi-MillionenKonzerns, wo sich Polizei und Presse bereits tummeln. Leider ist der Zugang zu höheren Etagen abgeriegelt.“
„Könnten Sie uns über den Tathergang aufklären?“
„Der Polizei nach verschaffte sich ein noch unbekannter Täter Zugang zum KAPE-Gebäude und drang bis in die obersten Etagen ein. Dort soll der mutmaßliche Täter dann ein Attentat auf mehrere Geschäftsführer verübt haben. Der Täter selbst erhängte sich daraufhin unweit des Tatorts mithilfe eines Sicherheitsbügels.“
„Was für ein grausames Verbrechen. Sind denn die Tatmotive bereits bekannt?“
„Nein. Nach offiziellen Angaben scheint es so, als ob es sich um einen willkürlichen Mord handelt, begangen von einem Verzweifelten mit psychischer Vorerkrankung. In solchen Zeiten ist es umso wichtiger, dass die Gemeinschaft zusammenhält.“

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