Rapunzel 10/21

Zu Rapunzels zwölften Geburtstag wurde sie von ihrer Mutter auf einen hohen Turm gebracht. „Eingesperrt“ traf es besser, denn der Turm hatte keine Türen. „Aber Mutter, warum?“, fragte Rapunzel weniger weil sie das Zimmer nicht verlassen konnte, sondern eher weil sie dann nicht mehr so viel Zeit mit ihrer Mutter verbringen konnte. „Hier, nimm Cami, mit ihm wirst du nicht einsam.“, Barbara schenkte Rapunzel ein kleines Chamäleon.&nbsp; So lebten Cami und Rapunzel ihr Leben lang in dem großen Turm im Wald.&nbsp; Sie hatte eigentlich ein riesiges Zimmer, von welchem viele Mädchen geträumt hätten, aber da ihr Zimmer der Größe ihrer ganzen Welt entsprach, kam es ihr sehr sehr klein vor. Es war alles was sie kannte.

„Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter.“, ertönte es, wie jeden Morgen, vom Fuße des Turms. Rapunzel wickelte ihren meterlangen Zopf ihr meterhohes Wohnhaus hinunter, sodass ihre Mutter damit heraufsteigen vermag. In Barbaras Korb waren, wie jeden Sonntag, zwei Stücke Brot, Butter, Kuchen - mit zugehörigem Löffel und ein Blumenstrauß, damit Rapunzel ihr Zimmer etwas aufhübschen konnte.

Noch in dieser Nacht lief Klaus in den Garten der Hexe Barbara. Schwungvoll sprang er über die Mauer, die des Hexes Garten umrandete. Schnellen, aber leisen, Schrittes ging er zum Rapunzelbeet und zupfte ein, zwei Salatblätter ab - und drei und vier. Er wurde gar übermütig und zog sie bis zu den Stängeln aus dem Boden. „Meine Frau wird sich so freuen!“, flüsterte er vor sich hin und übersieht den Schatten der Alten. ,,Ey! Was machst du in meinem Garten?‘‘&nbsp; Klaus erstarrte. Mit zitternder Stimme sagte er: ,,Entschuldigung, meine Frau sah Ihre Rapunzeln und bekam so einen Appetit. Bitte verhexen sie mich nicht!“ , Barbara atmete tief ein, sie dachte nach. „Na gut!’‘, sagte sie langsam: ,,Nimm dir so viele Rapunzeln wie du tragen kannst, doch eine Forderung habe ich.“ Der Mann stimmte sofort zu, was sollte er tun - den Garten umgraben? Das Haus neu streichen? „Gut, dann ist es abgemacht. Du gibst mir dein erstgeborenes Kind.“&nbsp;Klaus erschrak. „ Des Fräuleins Wunsch nach einem Baby war in letzter Zeit gar nicht mehr so groß… sie wird es verkraften.“, kam er zu dem Schluss und lief mit beiden Armen voller Rapunzeln zurück zu seinem Haus. Diesmal durch das Tor.

Rapunzel erschrak sehr, ungehalten schrie sie auf. „Wer zu Hölle?!“ Der Prinz verbeugte sich schnell: „ Ich hörte deinen wunderschönen Gesang. So schön wie du…“ Rapunzel fand den Prinzen auch ganz ansehnlich.&nbsp; Er reichte ihr seine Hand und blickte ihr tief in die blauen Augen. Sie seufzte.&nbsp; “Ich heiße Rapunzel.“ „Heirate mich.“&nbsp; „Kannst du mir vorher sagen, wie du heißt?“ Rapunzel und Jonas waren sowie schockverliebt, als auch schockverlobt. Sie planten bereits wie ihre Kinder heißen sollten, die Farbe ihrer Hauswand und wie zum Geier sie Rapunzel aus dem Turm bekämen.&nbsp; „Bringe mir jedes Mal, wenn du kommst einen Seidenfaden mit - daraus nähe ich uns dann eine Leiter.“

Es war einmal ein älteres Bauernpäarchen namens Maria und Klaus. Schon seit langem sehnte sich die Frau nach einem Kind. Die Trauer, die sie aufgrund ihres unerfüllten Traumes heimsuchte, schien sie langsam zu zerreißen. Über die Jahre wurde der Kinderwunsch immer größer und größer - ebenso wie der Kummer.

Gemeinsam und überglücklich ritten die drei zurück in Jonas´ Königreich. Nachdem Rapunzel ihre Schwiegermütter Regelinde und Matthia kennenlernen durfte, war es endlich soweit, Rapunzel und Jonas´ Hochzeit konnte stattfinden! Die landesbekannte Pfarrerin Gudrun Meier Mühlenbach sollte die beiden trauen.&nbsp;Die langersehnte Hochzeit war wunderschön und das ganze Land wurde eingeladen - bis auf die Hexe.&nbsp; So lernte die erstmals freie Rapunzel nach viel zu langer Zeit ihre leiblichen Eltern kennen. Sie wurden endlich eine große Familie. Gemeinsam zogen sie an einen geheimen und magischen Ort am Rande des Königreichs, sodass sie die Hexe nie finden würde. Und das tat sie nicht, sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.&nbsp;

Er ritt durch den Wald, am Meer entlang, durch Moor, über Eisschollen - Tag und Nacht. Er ritt durch Frankfurt und Schlehdorf. Durch Polen auch noch. Er ritt quer durch die Oder, bis nach Italien, durch Lebus und Bremen. Der Prinz kam in Brasilien und Australien vorbei - dafür brauchte er ein Boot. Und dann kam er in die Wüste. Der Rapunzel schon ganz nah! Aber aufgrund seines Sehunvermögens ritt er an seiner Verlobten vorbei - durch Brandenburg und Thüringen und Berlin. Doch das Schicksal wollte die beiden zusammen haben, also traf er wieder auf Rapunzel. Genauer gesagt, auf ihren wunderschönen, aber verzweifelten Gesang. Vor lauter Glück den Prinzen wieder zu sehen, brach Rapunzel in Tränen aus. Sie rannte auf den verschollenen Jonas zu, riß ihn buchstäblich vom Pferd und drückte ihn an sich. Sie weinte bitterlich, eher aus Erleichterung, und als eine ihrer Tränen eines seiner Augen benetzte, erblickte er seine liebgewonnene Schönheit. „Ich kann wieder sehen!“, rief der Prinz und sah hinter Rapunzel sein neugeborenes Kind Leni: „Papaaaa“, kreischte sie und umarmte ihn fest.

Nun kam Jonas jeden Abend vorbei, in der einen Hand den seidenen Faden, in der anderen Rapunzels weiches Haar. So verbrachten sie jede Nacht beisammen, wenn sie sicher sein konnten, dass Barbara sie ja nicht bemerken würde. Doch eines Tages geschah ein Meileur und die Hexe bemerkte die heimlichen Besuche des Prinzen. Sie schnitt die Haare ihrer Tochter mit nur einer Bewegung ab und schickte sie weit weit fort, sodass Rapunzel traurig und einsam vor sich hin leben musste.&nbsp; Doch der Prinz wusste nichts von Rapunzels grauenhaften Schicksal. Er besuchte sie wie abgemacht tief in der Nacht. „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter.“, rief er flüsternd, aber auch laut. Ein Zopf wurde hinunter gelassen, ja, aber gehörte er nicht mehr zu dem schönen Mädchen - er war gerade genug am Fensterhaken befestigt, um den Knaben zu halten.&nbsp; Statt das von dem Prinzen erwartete Rapunzel begegnete er der grausen alten Hexe, die er bei seinem ersten Turmbesuch schon beobachtet hatte. Er war sprachlos. ,,Ich habe Rapunzel ganz weit weg gebracht. Du wirst sie niemals finden.’’ Der Prinz, verzweifelt und tiefunglücklich, entfernte sich rückwärts von der Hexe. Ungläubig musste er schnaufen. Und da passierte es, er fiel aus dem Fenster. In der Tiefe fing ihn ein Gebüsch auf - welches ihm das Leben rettete, aber das Augenlicht nahm.&nbsp; So stieg Jonas blind auf sein Pferd und ritt los - auf der Suche nach seiner Liebsten.

Es war ein besonderer Sonntag, denn am heutigen Tage hat sich der junge Prinz des Reiches überreden lassen zur Jagd aufzubrechen. Er ritt also durch den Wald, widerwillig ein Tier zu schießen und da sah er ihn, einen einsamen Turm mitten im Nirgendwo mit einer alten Frau, die sich an einem dicken blonden Zopf zum Fenster zieht. Jonas dachte, er träume.&nbsp; Fasziniert blieb er im sicheren Abstand im Gebüsch und beobachtete das seltsame Gebäude. Die gebrechliche Alte kam nach einiger Zeit auch auf diese Weise wieder aus dem Turm heraus. Doch der Prinz blieb versteckt und wartete weiter. Plötzlich hörte er etwas. Es klang schön und liebevoll, fast wie ein Vögelchen. Jonas sah den Turm hinauf, es musste von da oben kommen. Vielleicht ein schönes Mädchen? Eine Tür fand er nicht. Und da fiel ihm die Methode der Alten wieder ein.&nbsp; „Rapunzel, Rapunzel - lass dein Haar herunter.“ Und „wusch“ - kam das Haar wunderschön und golden. Jonas kletterte zaghaft in die Höhe.

Maria bereitete sich noch in der selben Nacht einen schmackhaften Salat aus den Rapunzel-Blättern zu. Sie aß und aß in wenigen Minuten die ganze Salatschüssel leer. Maria wurde schwanger und neun Monate später war sie überglückliche Mutter eines kleinen Mädchens.&nbsp; „Sieh sie dir an, Klaus. Unsere Tochter.“ Mit gebrochenem Herzen nahm er das Baby in den Arm, drehte sich um und verließ das Haus. Während Maria dachte, es handle sich nur um den ersten Spaziergang ihrer Tochter, war Klaus auf dem Weg zur Hexe um sein Versprechen einzulösen.&nbsp; Im Garten der Hexe, nahezu neben dem Rapunzel-Beet, fand die Übergabe des Kindes statt.&nbsp; Barbara taufte sie „Rapunzel“. Mit Tränen in den Augen kehrte Klaus um und überlegte sich schon die passenden Worte für seine Frau. Die Hexe ward in ihrem Hause nie mehr gesehen. Rapunzel wuchs glücklich mit ihrer Ziehmutter auf.&nbsp;Sie lebten in einem kleinen Schlößchen mitten im Wald - Zwar hatte Rapunzel nicht viele Freunde, eigentlich gar keine, und doch verbrachte sie viel Zeit mit der sie innig liebenden Barbara.

Schlussendlich trauerte sie so sehr, dass sie aufhörte zu essen. Nun wurde sie schwach und krank und Klaus machte sich sehr große Sorgen. Zu der Zeit, als Maria nur noch im Bett lag und ihre einzige Beschäftigung das Beobachten der Nachbarn war, sah sie, wie die alte Barbara von nebenan Feldsalat in ihrem Gemüsebeet anpflanzte. Maria schaute nun Tag für Tag zu, wie sich das Gewächs vermehrte - es lief ihr das Wasser im Mund zusammen und plötzlich war der Drang diese Blätter zu essen größer, als die Trauer um ihr nicht existentes Baby. Und eines Tages hielt sie es nicht mehr aus. Maria rief ihren Mann ins Zimmer:&nbsp; „Klaus, sieh aus dem Fenster heraus.“ Klaus beugte sich über das Bett und begutachtete die köstlichen Pflanzen. „ Pflücke mir ein paar von diesen Rapunzeln. Ich denke, sonst werde ich sterben…“ Der Mann zögerte und doch erfreute ihn der Gedanke, dass seine Frau wieder Appetit hätte. Da er sie über alles liebt, nahm er die Gefahr in Kauf.&nbsp;&nbsp;

Name

Safari may block some audio or video from playing automatically and ‘read to me’ will skip these. You can configure this in Safari’s preferences.