Book Creator

„Der Weltenexpress“ - 7d

by Michaela Bertele

Pages 4 and 5 of 23

Loading...
Am Bahnhof
Loading...
Hier, abgeschieden vom Rest der Welt, hat alles angefangen.
Mein Halbbruder Jonte zog sich hierher zurück, um zu träumen und die Sterne zu sehen. Vor zwei Jahren in der Silvesternacht saß Jonte die ganze Nacht hier auf dieser frostigen Bank. Niemand wollte mir glauben, dass er die ganze Nacht einfach hier saß und sich die Sterne ansah, aber ich wusste es besser. Das tat Jonte nämlich jedes Jahr. Nur war er vor zwei Jahren am Neujahrsmorgen nicht wieder zurückgekehrt. Seit dieser Nacht hatte sich alles geändert.
Seit Jontes Verschwinden weiß ich nicht, wie ich alles aushalten soll. Meine Mutter schämt sich nur noch für mich. Sie findet, ich sollte ,,normaler" sein, aber was ist schon normal? Auf jeden Fall ist es nicht normal, dass ein dreizehnjähriges Mädchen altertümliche Wörterbücher liest oder Boomerangs benutzt. Aber nicht mal mein Name ist normal! ,, Flinn" ist einer dieser Namen, die entweder ein Mädchen- oder ein Jungenname sein können. ,, Hätte ich dir doch nur einen anderen Namen gegeben ", klagt meine Mutter oft, als wäre mein Name daran schuld, dass ich so anders war. ,,Irgendetwas Normales wie Laura oder Isabelle." Nein danke! Isabells mögen Pferde und alles, was rosa ist, und Lauras gehen immer zu zweit aufs Klo. Meine Mutter will, dass ich genauso bin wie die Aasgeier. Wieso kann sie nicht einfach akzeptieren, dass ich anders bin als die anderen, und wieso ist das etwas Schlechtes? Eigentlich sollte mich das nicht wundern, denn seit Jonte verschwunden ist, hat meine Mutter keine Geduld mehr mit ihren Kindern. Wahrscheinlich würde meine Mutter ganz hübsch aussehen, wenn in ihren blauen Augen mehr Glanz wäre oder wenn sie ab und zu mal lachen würde oder wenigstens lächeln. Aber inzwischen ist meine Mutter nur noch eine mürrische Hülle ihrer selbst, sie hat jegliche Lebensfreude verloren.
Loading...
In der Schule ist es genauso schlimm. Früher, wenn ich mich über die Schule oder irgendwas anderes beschwerte, sagte Jonte immer: ,, Sei furchtlos und kühn!" Diese vier Worte halfen mir immer wieder aufzustehen und weiterzumachen. Selbst jetzt, wo er nicht mehr da ist, sage ich das immer wieder zu mir selbst, um mir Mut zu machen und Jonte nicht zu vergessen. Mir fehlt Jonte so sehr. Seit zwei Jahren versuche ich verzweifelt nicht zu vergessen, wie sich seine Umarmungen gefühlt haben oder wie sich seine Stimme anhörte. Dieser Bahnhof war der einzige Hinweis, den ich hatte, um Jonte zu finden. Dieser und ....
Drei Wochen nach Jontes Verschwinden hatte ich von ihm eine Postkarte bekommen. An den vielen Poststempeln, die Jontes Schrift überdeckten, konnte man sehen, dass die Karte schon viel eher abgeschickt worden war, gleich am zweiten Januar. Doch sie hatte einen weiten Weg zurückgelegt - von Oslo über Kopenhagen, was ich kaum glauben konnte. Und dann hatte die Karte von Hamburg aus noch fast eine Woche bis zu uns nach Hause gebraucht. Aber noch seltsamer war die Tatsache, dass ich die einzige war, die den petrolfarbenen Zug auf der Vorderseite sah. Keine Ahnung, was das bedeutete, aber irgendwie und irgendwann werde ich Jonte schon finden.